Jaguar S.S. 90 Prototype by radical classics - fanaticar

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Im März 1935 wurde an der «Earls Court Motor Show» der Prototyp eines zweiplätzigen Sportwagens vorgestellt, bezeichnet als «90 special two-seater, shortened, experimental», besser bekannt als «S.S. 90 Prototype». Dieses Fahrzeug ist der Stammvater aller von SS Cars Ltd. und folglich aller von Jaguar hergestellten echten Sportwagen.

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Hatte die «S.S. Cars Ltd.» des legendären (Sir William) «Bill» Lyons Anfang der 30er-Jahre als Hersteller zwar sportlich aussehender, aber halt wenig schneller Autos gegolten, so war das, was sie 1935 in Earls Court auf ihrem Stand enthüllte, ohne Zweifel ein echter zweisitziger Sportwagen. Etwas, das dem Liebhaber solcher Autos auf den Leib geschneidert schien, etwas aber auch, mit dem man Rennen bestreiten und sogar gewinnen konnte. Die Fachzeitschrift «Autocar» liess in ihrer Ausgabe vom 22. März 1935 ihrer Begeisterung freien Lauf. Neben längeren Beschreibungen von sportlichen Eigenschaften, Leistung und geringem Gewicht wurde vor allem das Aussehen in glühenden Farben geschildert. Auch der Preis von knapp unter 400 Pfund wurde als bemerkenswert im Verhältnis zu der zu erwartenden Leistung hervorgehoben. erwartenden Leistung hervorgehoben.

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Das von einem seitengesteuerten 2,6-Liter-Sechszylindermotor der Standard Motor Company angetriebene Fahrzeug wurde sofort nach der Ausstellung von der «S.S.Cars» dem damals als Rallye-Pilot bestens bekannten Hon. Brian Lewis (heute Lord Essendon) übergeben, damit dieser am RAC-Rallye im April 1935 teilnehmen könne. Allerdings – Brian Lewis war nicht erfolgreich. Erst riss das Kupplungskabel, dann überfuhr er in einer Gymkhana bei der Rückwärtsfahrt mehrere Pylonen, und schliesslich wurden die Resultate in den Regelmässigkeitsprüfungen seiner Reputation in keiner Weise gerecht. Drei Wochen später, gleichsam um seinen Ruf wieder aufzumöbeln, nahm Lewis das Auto nach Shelsley Walsh zu einer «Hillclimb Competition». Und da sah es besser aus: dritter Rang in einer Zeit von 52 Sekunden, eine ausgezeichnete Leistung.

Kaum hatte Lyons der Welt gezeigt, dass er als Sportwagenbauer ernst zu nehmen sei, liess er den S.S. 90 Prototypee in private Hände übergehen. Welchem Weg dieser gefolgt ist, können wir heute nicht mehr genau sagen. Doch im Jahre 1938 treffen wir auf Hugh Kennard, einen RAF-Piloten, der sowohl sein Auto als auch seine «Spitfire» liebte. Foto um Foto schoss er auf Duxford Airbase und auch auf seinem Weg dorthin. Anhand dieser Bilder lässt sich verfolgen, wie hier bald schon der Krieg seinen Tribut erheischte: Beulen, ein hässlich-provisorisches Stoffdach, abgewetzte Kriegsreifen, Tarnscheinwerfer. Nach dem Krieg treffen wir auf einen Besitzer namens Pete Tucker. Er hatte das Auto von «Bray Motors» in Hampstead für 65 Pfund und einen Austin 7 Ruby als Dreingabe erstanden. 1960 finden wir das Fahrzeug in den Händen eines Polizisten, der sich daraus einen «Hot Rod» bauen wollte.

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Einen V8 amerikanischer Provenienz hatte der Gesetzeshüter schon, doch dann wurde er (glücklicherweise) nach Südafrika versetzt. Der nächste Besitzer war ein Mr. Clarkson, von dessen Person wir zwar einiges wissen, da er der Polizei von Bradford wegen Diebstahls und anderer Delikte bestens bekannt war. Was er mit dem S.S. 90 machte, bleibt im Dunkeln. Schliesslich war da noch ein «Freund» von ihm, ein Gemüsehändler, der leider grosse Teile der Karosserie einem Altwarenhändler übergab. Von ihm kaufte der legendäre Jaguar-Restaurateur David Barber um das Jahr 1962 eine Kiste rostiger, aber ansonsten gut erhaltener Teile, inklusive Motor und Achsen. Wichtigstes Stück war das optisch wie auch historisch eindeutig identifizierbare Chassis, 248436. Noch heute sind die Schweissnähte erkennbar, wo der «S.S.Cars Experimental Shop» das Originalchassis eines S.S.1 verkürzte.

Der S.S.90 Prototype zeichnet sich vor allem durch seine Karosserieform aus. Mechanisch entspricht er ziemlich genau dem späteren Serien-S.S. 90. Von diesem Typ wurden neben dem Prototyp von April bis September 1935 genau 23 Stück gebaut, heute existieren noch 14 Exemplare. Das Fahrwerk des Prototyps entspricht demjenigen eines S.S.1, nur wurde das Chassis von 9’11’’ auf 8’8’’ reduziert, das heisst, es wurde durch das Herausschneiden einer Mittelsektion um ca. 38 cm, verkürzt.

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Weiter wurden Massnahmen zur Leistungsverbesserung getroffen. Der von Standard gelieferte Motor wurde als sportlicheres Aggregat ausgelegt: Die Verdichtung wurde durch leichtes Abhobeln des (flachen) Aluminiumkopfes von 7,0 auf 7,4:1 erhöht, die Ansaug- und Auspuffkanäle wurden poliert, die Ventildurchmesser vergrössert. Die Leistung stieg von 68 BHP auf etwa 80 BHP. Was im Original erstaunlicherweise nicht ersetzt wurde, waren die problematischen RAG-Vergaser. Kaum ein S.S.1 oder S.S.90, der heute noch diese chronischen Sorgenkinder besitzt: Sie alle sind noch in den Dreissigerjahren durch Solex-Vergaser ersetzt worden, die zudem eine Leistungsverbesserung bewirkten. Daneben wurde die Aufhängung mittels vom Fahrersitz aus einstellbarer André-Stossdämpfer – auf der Basis einer komplexen Hydraulik – ergänzt, die es erlauben, während der Fahrt die Dämpfung zu justieren.

Über den unwiderstehlichen Schwung des Prototypen-Hecks ist in der Jaguar-Literatur viel geschrieben worden. Ob die Form nun als «sinnlich», «betörend» oder «anregend» bezeichnet, mit einer kauernden Katze oder gar mit der Skulptur einer knienden, sich tief niederbeugenden Schönheit verglichen wird – sie lässt keinen Betrachter kalt. Manche haben auch versucht, sie nachzuahmen, Fiat, Wanderer, vielleicht sogar BMW mit dem ein Jahr später erschienenen 328. Warum wohl die S.S.90-Produktionsmodelle diese Kontur nicht beibehielten, sondern zu einem viel nüchterneren, abrupteren Heckdesign à la S.S.-Tourer zurückkehrten, mit senkrecht stehendem Reserverad, aufgeschraubt auf einen ebenso senkrechten Benzintank, ist nicht überliefert. Aus den Erfahrungen mit der Restauration liegen aber drei mögliche Interpretationen nahe. Einmal bedarf das eschenhölzerne Innere des eleganten Hecks der kunstvollen Arbeit eines Meisterwagners, welche auch in den Dreissigerjahren Tage, möglicherweise Wochen, in Anspruch genommen haben muss. Dann ist im Heck nur gerade Platz für den Benzintank und eine Schreibmappe, aber bestimmt nicht für die obligaten Golfschläger oder gar eine Reisetasche. Und schliesslich muss auch bei einem Roadster, der eine Marktchance haben sollte, ein praktischer Regenschutz installiert werden können. Der Prototypee verfügt über keinen Platz für solchen Luxus, sondern gab sich im Original mit einem Tonneau zufrieden, das über die enge Sitzöffnung gestrafft wurde.

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Dann wurde David Barber schwer krank. So wie es sein Wunsch war, kaufte ein Schweizer Jaguar-Enthusiast von Barbers Witwe Ann alles auf, was sich zum S.S.90 angesammelt hatte. Für sie wurde der Prototype tatsächlich zu einem Pensionsfonds. Von Allan Nightingale fein säuberlich gesammelt, bezeichnet und geordnet, wurden alle Teile in Kisten gepackt. Der Plan war klar: Es wurde alles nach Mesa, Arizona, USA, gebracht, und Terry Larson – ein Liebhaber und enthusiastischer Kenner früher Jaguar und SS Cars und als Restaurator für sein kompromissloses Streben nach Originalität bekannt – mit der Fertigstellung betraut.

Es war dann aber ein grosser Augenblick, als nach all den Jahren die glänzende Aluminiumhaut unter einem reichen British Racing Green verschwand, als Chrombeschläge angebracht wurden und als der Motor seine ersten Umdrehungen machte. Die Krönung der Restauration war der erste Auftritt am «Concours d’Elégance» in Pebble Beach, Kalifornien, im August 1998, an dem der S.S.90 den zweiten Rang in seiner Klasse erobern konnte. Ein Auto, das an die 40 Jahre in Kisten in einem Schuppen geschlummert hatte, konnte damit wie Phoenix aus der Asche in den Kreis der geschichtsträchtigen Automobile zurückkehren.

Text: Peter Ruch
Fotos: Radical Classics